100 Jahre - und noch kein bisschen alt
20.07.2017
Das Majorzwahlsystem, das vergangenen Juni dem neuen französischen Präsidenten Marcon mit nur 30% der abgegebenen Stimmen 70% der Mandate im Parlament sicherte, ist beim Zürcher Kantonsrat schon hundert Jahre Geschichte. Seit 1917 sorgt der Proporz für eine viel genauere Abbildung des Wählerwillens.
Demokratische Verfassung von 1869
Die Bedeutung Winterthurs in der politischen Geschichte und Gegenwart des Kantons Zürich wird oftmals unterschätzt. Für einmal hat der Kantonsrat mit einer Auswärtssitzung vor ein paar Tagen in Winterthur das Gegenteil bewiesen und der stark von Winterthurern geprägten demokratischen Verfassung von 1869 gedenkt. Sie war direkt-demokratisch und billigte dem Volk viel mehr Rechte zu als die Verfassung von 1831. Unter anderem wurde die Todesstrafe abgeschafft, die Glaubens-, Kultus- und Lehrfreiheit in Kirchenfragen eingeführt und die Vereinsfreiheit ausdrücklich garantiert. Regierungsrat und Ständerat wurden fortan vom Volk gewählt und der Grundstein für die Kantonalbank gelegt. Eine der Forderungen war auch das Proporzwahlrecht des Kantonsrats. Bis zur Umsetzung vergingen fast 50 Jahre.
8. Juli 1917
Am 8. Juli 1917 war es soweit. Erstmals wurde der Kantonsrat nach dem Proporzwahlrecht gewählt. Mit dem Systemwechsel vom Majorz zum Proporz erlebte die Bevölkerung eine eigentliche demokratische Revolution. Die Einführung des Proporzwahlrechts führte im Kantonsrat zu einer repräsentativen Vertretung der politischen Kräfte und sicherte den Minderheiten einen Zugang zum Parlament. Statt wie zuvor nach dem Mehrheitsprinzip werden die Parlamentssitze seit damals im Verhältnis der erhaltenen Stimmen auf die Parteien verteilt. Damit erhöhte sich die Meinungsvielfalt und konnten wesentliche Minderheiten wie zum Beispiel die Bauern, das Gewerbe oder die Arbeiterbewegung ihre Meinung verstärkt einbringen. Das ist heute nicht anders. Derzeit nehmen im Kantonsrat 10 Fraktionen und Vertreterinnen und Vertreter von 11 politischen Parteien Einsitz.
Damals hatten die Freisinnigen nichts zu Jubeln. Ihre Dominanz brach. Sie verloren nicht weniger als 54 von 98 Sitzen und hatte neu nur noch 44 Mandate im Kantonsrat. Die grosse Gewinnerin war die SP. Sie steigerte ihre Sitzzahl von 39 auf 82 von damals 223 Sitzen (heute 180).
Kantonsratssitzung und Gedenkveranstaltung
Nicht nur tagte der Kantonsrat in der Halle 53 im Sulzer Areal Zentrum in Winterthur und behandelte Winterthurer Geschäfte, es gab eine Reihe von begleitenden Veranstaltungen wie die gelungene Ausstellung «Weg der Demokratie», die eine Vielzahl von Besucherinnen und Besuchern und Schulklassen zu begeistern vermochte. Unter anderem präsentieren Staatsarchiv und Statistisches Amt eine neu entwickelte Online-Plattform mit einer Fülle von Informationen zum Kantonsparlament. Zudem erlebten die Besuchenden entlang von Wegzeichen die Entwicklung der Zürcher Verfassung von 1803 bis heute aus der Sicht von Zeitzeugen – von der unbekannten Bäuerin bis zum bekannten Industriellen. Überraschende Parallelen von einst und heute werden sichtbar. Kurzreferate und moderierte Diskussionen sowie ein Festakt rundeten den Anlass ab.
Dieter Kläy, Kantonsrat FDP