Dieter Kläy
Dieter Kläy

GAV ausgehebelt - Volk ignoriert

08.09.2017

Die Stimmbevölkerung des Kantons Neuenburg hatte 2011 entschieden: Mindestlöhne sollen erlaubt sein. Gemäss der der neuen Verfassungsbestimmung soll werktätigen Personen ein Einkommen zur Verfügung stehen, das ihnen «würdige» Lebensbedingungen garantiert. In Umsetzung dieser Verfassungsnorm änderte der Neuenburger Grosse Rat das entsprechende kantonale Gesetz. Dabei wurde ein minimaler Stundenlohn von 20 Franken festgelegt, der jährlich der Entwicklung des Landesindexes der Konsumentenpreise anzupassen ist.

sgv-Mitglieder erheben Beschwerde

Mehrere Branchenverbände und Mitglieder des Schweizerischen Gewerbeverbands sgv sowie Privatpersonen erhoben gegen diese neuen Minimallohnbestimmungen Beschwerde vor Bundesgericht. Insbesondere wurde gerügt, dass national gültige, allgemeinverbindlich erklärte Gesamtarbeitsverträge (ave GAV) durch einen kantonal festgesetzten Mindestlohn übersteuert werden könnten und der ave GAV keinen Vorrang mehr geniesse. Das Bundesgericht gewährte den Beschwerdeführern aufschiebende Wirkung. Der Mindestlohn konnte nicht wie geplant in Kraft treten.

Sozialpolitisch motivierte Rechtsprechung

Doch nun hat das Bundesgericht im Juli 2017 die Beschwerde gegen die gesetzliche Festlegung des Mindestlohns abgewiesen. Die Argumentation aus «Lausanne» ist rein politisch – und sorgt für Kopfschütteln. Die sozialpolitisch motivierte Massnahme, mit der insbesondere dem Problem von «working poor» begegnet werden soll, sei mit dem verfassungsmässig garantierten Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit und mit dem Bundesrecht vereinbar. Arbeitenden Personen soll ermöglicht werden, von einer vollzeitigen Erwerbstätigkeit leben zu können, ohne auf Sozialhilfe angewiesen zu sein. Der Einführung des Minimallohns liegen damit rein sozialpolitische Anliegen zu Grunde.

Abgewiesen worden ist auch der Einwand der Beschwerdeführer, dass das Bundesrecht den Kantonen keinen Platz für die Festlegung von Minimalsalären lasse.

Strapazierung der Sozialpartnerschaft

Der Schweizerische Gewerbeverband sgv nimmt den Entscheid aus Lausanne mit grossem Unverständnis zur Kenntnis. «Das Urteil stellt die bewährte Sozialpartnerschaft in der Schweiz in Frage und schwächt diese unnötig», stellt sgv-Direktor und Nationalrat Hans-Ulrich Bigler fest. Besonders störend und fragwürdig sei, dass alle vom Bundesrat allgemeinverbindlich erklärten Gesamtarbeitsverträge nunmehr durch einen kantonalen Mindestlohn ausgehebelt werden könnten.  

Zur Erinnerung: Der Souverän hat sich gesamtschweizerisch mehrmals absolut klar gegen Mindestlöhne und Lohnkorsetts ausgesprochen. In der eidgenössischen Volksabstimmung vom 24. November 2013 ist die 1:12 Initiative mit 65,3 Prozent der Stimmen gescheitert. Sie forderte, dass die Lohnspanne in einer Unternehmung zwischen dem tiefsten und dem höchsten Lohn das Zwölffache nicht übersteigen darf. Am 18. Mai 2014 ging die Mindestlohninitiative mit 76,3 Prozent Nein hochkant bachab; sie wollte gesamtschweizerisch einen Minimallohn um ca. 18 Franken gesetzlich verankern. Dass angesichts dieser klaren Verdikte das Bundesgericht ein politisches Urteil fällt, ist irritierend.

Ein Flächenbrand droht

Durch den höchst irritierenden Entscheid des Bundesgerichts wird die Schwelle für Mindestlöhne auf kantonaler Ebene klar gesenkt. In nächster Zukunft dürften in weiteren Kantonen entsprechende Forderungen gestellt werden, die nationale, gesamtarbeitsvertragliche Regelungen unterlaufen können. Eine solche Entwicklung hat nicht nur zur Folge, dass der Volksentscheid vom 18. Mai 2014 ausgehebelt, sondern die Sozialpartnerschaft zusätzlichen Belastungen ausgesetzt wird, da über die kantonale Hintertüre neue Mindestlohnvorschriften eingeführt werden.

Besonders befremdlich ist, dass nicht einmal vom Bundesrat beschlossene, allgemeinverbindlich erklärte Gesamtarbeitsverträge von diesem Entscheid ausgenommen sind. Sie können künftig unterlaufen werden, wobei das nicht nur die Lohnfrage betrifft, sondern auch andere sozialpartnerschaftlich ausgehandelte Vertragspunkte. Für den sgv ist somit klar, dass dieses Urteil auf gesetzlichem Weg korrigiert werden muss.

Dieter Kläy, Ressortleiter sgv