Gleichwertigkeit im Fokus
08.11.2024
Die Gleichwertigkeit zwischen der akademischen und der beruflichen Bildung sowie der gegenseitige Gedankenaustausch und Gespräche mit Bundestagsabgeordneten (MdB) standen im Fokus des europäischen Kammertreffens der Berufsbildung, das in Berlin stattfand. Die Schweiz war - wie in den vergangenen Jahren - durch den Schweizerischen Gewerbeverband sgv vertreten.
Die Ampelkoalition (FDP, Grüne, SPD) hat die Berufsbildung auf dem Radar. Kurz vor Legislatur-Ende 2025 reichten die Ampelfraktionen im Oktober 2024 einen Prüfauftrag für die Weiterentwicklung des dualen Berufsbildungssystems ein. MdB Jens Brandenburger (FDP), Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Bildung und Forschung, erklärte den Teilnehmenden des Kammertreffens die Eckwerte der Offensive, die die Berufsbildung individueller, innovativer und internationaler machen will. Individueller in dem Sinne, dass z.B. auch für Gymnasiasten ein Wechsel in die Berufsausbildung einfacher möglich wird. Begabtenförderung soll mit Stipendien für Auszubildende auch ich der Berufsbildung eine Option sein. Die Ampelkoalition will die Berufsbildung internationaler ausgestalten und eine Zeit im Ausland ermöglichen, aber auch Lernende aus dem Ausland nach Deutschland holen. Wichtig ist nicht nur die Stärkung der beruflichen Bildung, sondern auch ihre Weiterentwicklung, weshalb sie auch innovativer werden muss. Die Durchlässigkeit innerhalb der beruflichen Bildung muss nur schon deshalb erhöht werden, weil die jungen Leute ihre Berufe heute schneller wechseln als früher. Auch das Talentcenter, wie Österreich es kennt, und die Validierung informell erworbener Kompetenzen sind Thema.
Im Sommer 2024 ist das grösste Bund-Länder-Bildungsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik lanciert worden. 20 Milliarden Euro sollen in den nächsten 10 Jahren in die Bildung investiert werden. In den PISA-Studien, aber auch in national vergleichbaren Studien, wird ein rasanter Rückgang der Lese, Schreib- und Rechenfertigkeit festgestellt. Das Startchancenprogramm betrifft alle 16 Bundeländer und rund 4'000 Berufsfachschulen.
Strukturierter und zielgerichteter Berufswahlprozess ist wichtig
MdB Stephan Albani (CDU/CSU), Physiker und Unternehmer, ortet derzeit eine Übernahmequote von 77 Prozent der Lehrabsolventen. Wegen des Fachkräftemangels saugt der Markt die Absolventinnen und Absolventen schnell auf. 29% der Ausbildungsverträge sind 2023 wieder aufgelöst worden. Allerdings sagt diese Zahl nicht, wie viele in einen anderen Ausbildungsvertrag (Lehrvertrag) wieder einsteigen, weshalb sie zu relativieren ist. Derzeit diskutierte Themen sind die Berufswahl, die Verrechtlichung deutschen Qualifikationsrahmens (DQR) und die Stärkung der beruflichen Bildung bei gleichzeitiger Entbürokratisierung. Es gibt zwar viele Informationsoffensiven und alle möglichen Informationsmöglichkeiten. Es fehlt bei den jungen Leuten aber oft am strukturierten und zielgerichteten Entscheidungsprozess.
Gleichwertigkeitsinitiativen zugunsten der Berufsbildung
In der Schweiz ist kürzlich die Vernehmlassung zur Stärkung der Höheren Berufsbildung zu Ende gegangen. Mit einer Anpassung der rechtlichen Grundlagen sollen die Attraktivität und Anerkennung der höheren Fachschulen (HF) und der höheren Berufsbildung insgesamt verbessert werde, ein Bezeichnungsrecht «Höhere Fachschule» eingeführt und Titelzusätze «Professional Bachelor» und «Professional Master» für die Abschlüsse der höheren Berufsbildung verankert werden. In Österreich ist das Bundesgesetz über die höhere Berufsbildung am 1. Mai 2024 in Kraft getreten. Geregelt werden die Prüfungen und der Weg dazu. In Deutschland ist das entsprechende Gesetz seit 2020 in Kraft. «Bachelor professional» und «Master professional» sind, wie in der Schweiz geplant, als Titelzusätze gedacht.
Vergleichbare Entwicklung in den Ländern
In Ostbelgien zeigen die Betriebe eine stabile Ausbildungsbereitschaft. Nach einem Rückgang entwickeln sich die Zahlen stabil. Nach dem Vorbild Österreichs soll ein Talentcenter geschaffen werden. Auch in Luxemburg ist die Entwicklung im handwerklichen Bereich stabil. Industriebetriebe finden derzeit schwer Lernende. Die Erwachsenenausbildung wird wichtiger. Die kürzlich neu gewählte Regierung will mehr in die Berufsbildungsinformation investieren. Österreich hat insgesamt rund 100'000 Lernende, tendenziell rückläufig. Besonders in Westösterreich sind viele Lehrstellen frei. Das Südtirol zeichnet sich durch eine rekordtiefe Arbeitslosigkeit von weniger als 2 Prozent aus. Bei 530'000 Einwohnerinnen und Einwohner gibt es rund 50'000 Unternehmen, 15'000 Handwerksbetriebe und rund 5'500 Lehrverhältnisse bei wachsender Tendenz. Ein starker Trend nach oben zeigt sich für Schlosser, Elektrotechniker und Kraftfahrzeug-Mechatroniker. Derzeit abnehmend ist die Tendenz bei den Köchen, Friseuren und in der Gastronomie. Grosse Investitionen werden in Nachwuchsinitiativen, Sommerbetreuungsprogrammen für Kinder und Themenwochen fürs spielerische Kennenlernen der Berufe gemacht. In Bolzano ist ein Talentcenter geplant. In der Berufsbildungsgesetzgebung hat das Südtirol eine grosse Autonomie.
Deutschland hingegen kennt derzeit rückläufige Vertragszahlen. Angebote gibt es viele. Eine Umfrage hat ergeben, dass 30'000 Betriebe keine einzige Bewerbung erhalten haben. Die Hälfte der Betriebe meldeten zurück, dass sie die offenen Lehrstellen nicht besetzen konnten. Auch im Handwerk herrscht Stagnation. 2023 gab es 20'000 unbesetzte Handwerkslehrstellen. Zunehmendes Hindernis ist die Mobilität. Auszubildende können sich in den grossen Städten die Mieten nicht mehr leisten, was zur Folge hat, dass die Politik nun ein Bund-Länder-Programm «Junges Wohnen» lanciert.
Respekt löst die Tatsache aus, dass in der Schweiz über 60% der Schulabgängerinnen und Schulabgänger den Weg der dualen Berufsbildung wählen. In den übrigen Ländern liegt diese Quote sehr viel tiefer. Im Ergebnis bleibt festzustellen, dass in allen Ländern die Berufsbildung hohe Priorität hat. Das ist angesichts des Fachkräftemangels auch nötig.
Dieter Kläy, Ressortleiter
Das europäische Kammertreffen
Am jährlich im Herbst stattfindenden europäischen Kammertreffen der Berufsbildung nehmen Dachverbände und Berufsbildungsorganisationen der deutschsprachigen Länder Belgien, Deutschland, Luxemburg, Österreich, Schweiz und Südtirol teil. 2023 fand der Austausch in Eupen (Belgien) statt. 2025 ist das Treffen in Bern geplant.
Validierung informell erworbener Kompetenzen in der Berufsbildung
Die Validierung informell erworbener Kompetenzen ist nicht nur in der Schweiz, sondern in der ganzen EU ein Thema. 2012 erfolgte eine Empfehlung an alle Mitglieder entsprechende Gesetze zu schaffen. Deutschland hat darauf das ValiKom Projekt lanciert. Zielgruppe sind praxiserfahrene, beruflich handlungsfähige Personen ohne formalen Abschluss. Das können auch Quereinsteigende sein. Berufliche Kompetenzen sollen sichtbar gemacht werden. Das Gesetz ist seit 1. August 2024 in Kraft und spricht jetzt von «Feststellungsverfahren». Regelungen für Menschen mit Beeinträchtigung sind inkludiert. Die Validierung nützt nicht nur betroffenen Menschen, sondern auch den Betrieben. Im Ergebnis gibt es drei Möglichkeiten: volle Übereinstimmung mit einem Zeugnis, überwiegende Übereinstimmung mit einem Ausweis und einem Bescheid, welche Fähigkeiten noch fehlen und Ablehnung des Antrags.
In Luxemburg funktioniert die Validation des Acquis seit 2010. Voraussetzungen sind 5000 Stunden Berufserfahrung aus mindestens 3 Jahren in der gewünschten Qualifikation. Eine Validierungskommission sichtet die Dossiers inklusive Belege und entscheidet individuell, auch ob eine Bewerberin oder ein Bewerber zum Gespräch eingeladen oder sur Dossier entschieden wird.